Darf ich dich anfassen?

 in Allgemein

Wenn zwei Menschen sich begegnen, gibt es – je nach Kulturkreis und je nachdem wie nahe man sich steht – bestimmte Rituale. Gibt man sich die Hand? Einen Kuss auf den Mund oder drei Küsschen links und rechts? Umarmt man sich? Oft wird das nicht vorher angekündigt, es passiert einfach, man verständigt sich über bestimmte Signale, die der eine Körper dem anderen sendet. Das ist wie eine eigene Sprache, deren Grammatik man erst einmal beherrschen muss. Die meisten Menschen lernen diese Sprache von klein auf, bis sie diese spätestens im Erwachsenenalter verinnerlicht haben.

Josy ist „UNBERÜHRT“

Josy, die Hauptfigur meines Romans „Unberührt“, der im März 2023 im APHAIA Verlag erschienen ist, hat die Vokabeln auswendig gelernt, aber verinnerlicht hat sie die Sprache auch als 22-Jährige nicht. „Ich hatte schon immer das Bedürfnis, Menschen einfach so zu berühren“, erzählt sie, „auch wenn sie mir ganz fremd waren.“

Josy ist anders. Der natürliche Schutzschild, der jeden Menschen umgibt, diese unsichtbare Grenze, ist ihr fremd. „Ich verstand das damals nicht“, sagt sie, „wie etwas so Schönes wie eine Berührung nicht gewollt sein kann.“ Im Buch bringt Bruder Valentin ihr bei, zu fragen, bevor sie jemandem zu nahe kommt. „Darf ich dich anfassen?“ wird zu ihrem Mantra, zu ihrem eigenen Schutzschild, bevor es zu unangenehmen Situationen oder sogar Unfällen kommen kann. „Darf ich dich anfassen?“, fragt sie und die meisten reagieren mit einem Lachen, so als habe sie einen Witz gemacht. Viele sind irritiert und verneinen sofort. Nur die Abgebrühten sind neugierig und lassen sich auf das Abenteuer ein.

Die Pandemie verzerrt alles

Genau wie Josy fühlte ich mich während der Pandemie. In Zeiten von Kontaktbeschränkungen und der permanenten Gefahr, einander anzustecken, galten auf einmal ganz neue Regeln. Und die meisten Menschen kamen, genau wie ich, mit dem Lernen nicht hinterher. Ich erinnere mich daran, wie ich auf einem öffentlichen Platz eine Freundin zur Begrüßung umarmte und eine fremde Person vorbei lief und meinte: „Das werde ich melden!“ Das nahm beinahe Stasi-ähnliche Züge an. Eine Berührung mit einer Person, mit der man nicht im selben Haushalt lebt, das konnte richtig viel Geld kosten. Wie absurd! In Altenheimen und Krankenhäusern wurden Menschen von ihren Liebsten isoliert, da machte auch der Tod keine Ausnahme.

In der Zeit, als der erste Lockdown noch Fassungslosigkeit auslöste und die Vorstellung einer Pandemie gehandelt wurde wie ein Witz, wünschte ich mir einen Hund, mit dem ich regelmäßig Gassi gehen konnte und der mir mit seiner naiven Unwissenheit und seinem fröhlichen Schwanzwedeln durch diese seltsame Zeit helfen sollte. Weil ich hoffte, die Pandemie wäre nur eine Phase, schaute ich mich in sogenannten Nachbarschaftsforen nach einem Leih-Hund um, mit dem ich regelmäßig spazieren gehen könnte. Dabei musste ich feststellen, dass ich nicht die Einzige war, die diese Idee hatte. Tatsächlich gab es viel mehr Gesuche als Angebote. Denn auch Herrchen und Frauchen wussten ihren Vierbeiner plötzlich wieder zu schätzen. Mit etwas Glück fand ich Luca, einen 9-jährigen Mischling, den ich knapp zwei Jahre regelmäßig ausführte.

Josy ist Batwoman

Im Sommer 2022, ich hatte gerade den Vertrag für meinen Debütroman „Unberührt“ unterschrieben und wusste, dass die literarische Josy das Licht der Welt erblicken würde, entdeckte ich die andere Josy – auf der Website einer Organisation, die Hunde aus dem Ausland vermittelt. Mit leicht schräg gelegtem Kopf hockte sie im grünen Gras und starrte in die Kamera. Die Schnauze braun und um die Augen schwarz, sah sie aus, als würde sie eine Batwoman-Maske tragen. „Witziges Dackelmix-Mädchen Josy sucht neues Zuhause“ stand da. Ich wusste sofort, dass sie zu mir gehört.

Als wir, mein Mann und ich, das Wochenende darauf zwei Stunden mit ihr spazieren gingen, erkundete sie neugierig ihre Umgebung, stürzte sich furchtlos in Wald und Wiesen und zeigte sich stets entspannt und freundlich gegenüber Kindern, Radfahrern und anderen Hunden, denen wir begegneten. Ich war sofort fasziniert von ihr – der schmalen kleinen Josy – hatte Respekt vor ihrer Energie und Sprungkraft und verspürte sofort das Bedürfnis, sie beschützen zu wollen. Dieses kleine putzige Wesen hatte sich die ersten sechs Monate ihres jungen Lebens auf den Straßen Zagrebs durchschlagen müssen. Als wir sie zurück zur Pflegestelle brachten, wo sie von „Projekt Castro/Udruga Castro“ mit anderen Hunden zwischenstationiert war, legte sie sich am Fuße der Verandatür in die Sonne und entspannte. Sie war eine Genießerin. Sie war selbstständig, frech und unschuldig zugleich und sie ging auf jeden Menschen offen zu – und das trotz der Erfahrungen, die sie gemacht haben musste.

Genau wie Josy in meinem Buch.

Frische Luft, Bewegung und jede Menge Kontakt mit Menschen – mein Leben hat sich durch Josy komplett verändert. Ich hätte nie gedacht, dass ein Tier genügt, damit Menschen, die sich vorher nie begegnet sind, auf einmal so offen aufeinander zugehen. Oder nein, der Hund geht auf andere zu. Er freut sich über jeden, springt freudig an fremden Hosenbeinen hoch – obwohl sie das nicht darf, obwohl sie das nicht soll. Das gehört sich nicht! Doch als Reaktion beugen sich die Menschen zu ihr herunter, freuen sich und streicheln sie mit einem Lachen. Wenn ich mich entschuldige, dass mein Hund sich mit seinen dreckigen Pfoten danebenbenimmt, winken die meisten ab. „Ach, die ist doch noch jung, die lernt das schon noch!“ Und dann wird sie weiter geknuddelt. Dabei lernt sie es eben nicht, wenn alle so reagieren. Aber es fragt auch niemand: „Darf ich Ihren Hund anfassen?“ Wozu auch? Josys Signale sind eindeutig. Sie möchte, dass man sie berührt.

Gesund mit Magnet Hund

Das Fell eines Tieres hat auf die meisten Menschen eine anziehende Wirkung. Das Streicheln eines Hundes macht nachweislich glücklicher. Aber nicht nur das, es macht auch lernfähiger und hilft bei Stress. Laut einer Studie um Professor Patricia Pendry von der Abteilung für menschliche Entwicklung der Washington State University (WUS) sinkt das menschliche Stresshormon Cortison bereits nach zehn Minuten Streicheln. Immer mehr alternative Heilmethoden spezialisieren sich auf Therapien, bei denen Tiere eingesetzt werden. Eine Streicheltherapie kann bei Demenz oder Trauma-Patienten Wunder bewirken. Von den Krankenkassen werden tiergestützte Therapien jedoch nicht gefördert. Auch Sozial-, Jugend- und Gesundheitsämter unterstützen die Maßnahmen nur in Einzelfällen.

Wer auf den Hund kommt, dem tut das in der Regel gut. Aber natürlich gibt es auch Menschen, die einen Hund haben (oder glauben, ihn zu besitzen) und diesen dann als einzige Bezugsperson sehen; denen das Streicheln eines Hundes als Berührung genügt. Kontakt von Mensch zu Mensch – verbal, sozial und physisch – ist mit der Mensch-Tier-Beziehung jedoch nicht zu vergleichen. Mensch kann auch mit Hund einsam sein. Einem Hund fällt es oft leichter, zwischen zwei Menschen zu vermitteln, unsichtbare Mauern einzureißen und dem Gegenüber ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Wer die Augen offenhält, gewinnt vielleicht durch das eine das andere und hat am Ende beides. Völkerverständigung könnte so einfach sein, wenn alle einen Hund hätten.

Tierische Völkerverständigung

Vor Kurzem ging ich mit Josy in der Nähe eines Krankenhauses spazieren und traf eine ältere Dame mit Hund, die auf ihren Mann wartete, der sich gerade untersuchen ließ. Sie fragte mich, weshalb ich auch vormittags Zeit hätte, um mit meinem Hund spazieren zu gehen. Ich erklärte ihr, dass ich Autorin sei. Dass mein Kopf auch beim Spazieren weiterarbeitet. Als ihr Mann von der Untersuchung kam – wir redeten immer noch miteinander – lief sie ihm aufgeregt entgegen und rief: „Wolfgang, ich habe soeben eine echte Schriftstellerin kennengelernt!“ Sie gab mir ihre Telefonnummer und bat mich, sie auf dem Laufenden zu halten.

Mittlerweile bin ich in einigen Hunde-Gruppen, tausche mich aus und verabrede mich, damit die Vierbeiner toben können. Und nebenbei überschneiden sich Lebenswelten. Ich fühle mich vernetzt, in Verbindung mit der Welt.

Auch Steine kann man spüren

Die Protagonistin meines Debütromans „Unberührt“ macht nicht nur positive Erfahrungen in Bezug auf Berührungen – im Gegenteil. Ihre Reise, bis sie begreift, ist steinig. Und auch wenn mein Hund wirklich rein gar nichts mit dem Inhalt meines Buches zu tun hat, ähneln sich die tierische und die literarische Josy in einem Punkt enorm: Der Kontakt mit Menschen, eine Berührung, ist für sie in erster Linie etwas Wunderbares.

 

Über Agnes Gerstenberg

Agnes GerstenbergunberührtAgnes Gerstenberg, 1985 in Berlin geboren, schrieb mit 18 Jahren ihr erstes Theaterstück. Sie hat Literatur- und Theaterwissenschaften in Berlin studiert sowie szenisches Schreiben an der uniT in Graz. Als Autorin wurde sie früh gefördert, u.a. vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland. Sie war Stipendiatin im Stuttgarter Schriftstellerhaus e.V. und der Akademie für Kindermedien in Erfurt. Ihre Theaterstücke wurden u.a. ins Englische übersetzt, aufgeführt, ausgezeichnet und – wie „Zu einer anderen Jahreszeit.Vielleicht“ – vom SWR als Hörspiel produziert. Als Dramaturgin wirkte sie an verschiedenen Theatern in Deutschland. Sie lebt als Autorin und Lektorin in Regensburg. „Unberührt“ ist ihr erster Roman.

Mehr über sie und ihre Arbeit: www.AgnesGerstenberg.com