Berührungen mit dem Lieblingsmenschen

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von Dorothea Ristau

Meine Entscheidung, als professionelle Kuschlerin zu arbeiten, fiel während einer Kuschelparty im Sommer 2019: Zunächst näherten wir uns über erste, vorsichtige Berührungen einander an, beispielsweise eine Hand auf der Schulter oder der eigene Fuß auf dem Fuß des anderen. Dann rückten wir näher zusammen, tauschten zunehmend mehr kuschelige Berührungen aus und am Ende des Abends lagen etwa 30 Menschen selig kuschelnd übereinander und ineinander verschränkt und Gefühle der Wärme und der Zufriedenheit lagen in der Luft.

Solche Bilder sind inzwischen überhaupt nicht mehr vorstellbar, denn heute heißt es: Abstand halten! Kontakte sind zu vermeiden und bei der Begrüßung gehen wir instinktiv einen Schritt voneinander weg, anstatt einen Schritt aufeinander zu. An Berührung ist gar nicht zu denken.

Auch wenn ich um das exponentielle Wachstum des Virus weiß und die große Gefahr für bestimmte Risikogruppen sehe, so bin ich als Botschafterin der Berührung mit den Abstandsregelungen nicht glücklich. Denn Berührungen sind ein Grundbedürfnis und wenn ein Mensch lange Zeit keine Berührung bekommt, so gerät er mit der Zeit immer mehr aus seinem inneren Gleichgewicht.

Doch anstatt aufgrund der verfahrenen Situation in Corona-Depressionen zu versinken, plädiere ich lieber dafür, auf die Suche nach Handlungsmöglichkeiten zu gehen. Denn zwischen den beiden Extremen „Kuschelparty mit 30 Menschen“ und „gar keine Berührungen“ gibt es noch viele Zwischenstufen, die wir jetzt entdecken können: Berührungen im übertragenen Sinne über die Herzensebene, Selbstberührung, Berührungen mit „Abstand“ (z.B. eine Fußmassage), alternative Berührungsformen zur Begrüßung (z.B. mit dem Ellenbogen).

Eine weitere Möglichkeit ist das Berühren des Menschen, der uns ohnehin sehr nah steht: Der Partner oder die Partnerin.

Denn es muss nicht gleich die große Kuschelparty sein. Um die Intensität, die in einer Berührung stecken kann, zu erleben, reicht eine einzige, weitere Person. Wenn an Quantität momentan nicht zu denken ist, dann widmen wir uns der Qualität der Berührungen, die momentan möglich sind.

Deshalb möchte ich einladen, bei der Berührung des Lieblingsmenschen neue Möglichkeiten zu entdecken. 

Anfassen ist nicht gleich berührt

Hast du schon mal beobachtet, wie oft du am Tag deinen Partner oder deine Partnerin berührst? Tust du es bewusst oder passiert es eher beiläufig? Nimmst du dir Zeit dafür? Und lasst ihr euch in der Berührung fallen und könnt sie genießen?

Nur, weil wir einen anderen Menschen anfassen, bedeutet es nicht automatisch, dass wir ihn berühren. Denn das Anfassen kann beiläufig passieren, ohne in dem Moment eine Verbundenheit zu spüren. Es kann aus einer bestimmten Erwartung heraus erfolgen – zum Beispiel dass die Berührung in einer sexuellen Begegnung enden möge. Oder es geschieht aus einer Bedürftigkeit heraus, da der Berührungshunger so unendlich groß ist und gerne gestillt werden möchte.

Wenn wir einander wirklich berühren, dann sind wir präsent. Wir spüren unser Gegenüber, wir spüren uns selbst und wir sind ganz im Hier und Jetzt, ohne etwas zu erwarten und ohne etwas verändern oder erreichen zu wollen. Bei dieser Art der Berührung agieren wir aus einer inneren Verbundenheit heraus und sind in der Lage, die Verbindung zum anderen zu spüren. Und dadurch erleben wir die Berührungen auf einmal intensiver und sie bekommen eine ganz besondere Qualität.

Ein guter Rahmen für neue Berührungserfahrungen

Doch wie lassen sich solche Momente der wirklichen Berührung und der Verbundenheit nun erleben?

Die erste und wichtigste Voraussetzung ist, dass ihr beide aufgeschlossen dafür seid, gemeinsam neue Möglichkeiten zu entdecken. Denn das Erleben neuer Berührungserfahrungen setzt auf beiden Seiten eine Offenheit dafür voraus. 

Dann braucht es Zeit. Wenn ihr eine Berührung bewusst erleben wollt, dann heißt es, aus dem Kopf in den Körper zu kommen. Wenn ihr mit euren Körpern bereits gut in Kontakt seid, so kann dieser Wechsel aus dem Denken ins Spüren relativ schnell gehen. Wenn ihr noch nicht so geübt seid, dann plant mehr Zeit ein. So habt ihr keinen Druck und außerdem ist es wunderbar, diese schönen Momente wirklich in Ruhe genießen zu können.

Außerdem möchte ich anregen, einen Blick auf den Raum zu werfen. Wenn ihr einander berührt, dann sind das ganz besondere Momente. Seid es euch wert, dass ihr es euch miteinander schön macht! Räumt den Wäscheständer und den noch liegen gebliebenen Stapel an Arbeit aus dem Zimmer, zündet euch ein paar Kerzen an, füllt den Raum mit einem besonderen Duft und mit entspannender Musik und macht es euch auf dem Sofa, auf dem Bett oder einem anderen schönen Ort eurer Wahl gemütlich.

Und dann nehmt die Erwartungen aus der Begegnung heraus. Das ist vermutlich gar nicht so leicht, denn in vielen, vielen Köpfen ist verankert, dass Berührung automatisch Sex bedeutet. Doch ich möchte euch einladen, dies voneinander zu entkoppeln. Es geht nicht darum, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern es geht darum, ganz im Hier und Jetzt anzukommen und jede einzelne Berührung in diesem einzigartigen Moment zu genießen. Je mehr ihr euch davon frei macht, eine bestimmte Erwartung erfüllen oder ein bestimmtes Ziel erreichen zu müssen, desto mehr kommt ihr ins Spüren. Und dann nehmen die Intensität und die Qualität jeder einzelnen Berührung zu.

Ideen für berührende Begegnungen

Doch was für Berührungen jenseits von Lust und Erotik sind eigentlich möglich?

Um neue Berührungserfahrungen zu sammeln, kann es sinnvoll sein, dass der oder die eine in die gebende und der oder die andere in die nehmende Rolle geht. Auf diese Weise kann sich der Gebende auf das Berühren konzentrieren und der Empfangende aufs Berührt werden.

Diese kleine Auswahl an möglichen Berührungen soll euch unterstützen, neue Ideen zu entwickeln. Nehmt es als Anregung, variiert so, dass es sich für euch stimmig anfühlt und vertraut eurer Intuition.

  • Massieren eines Körperteils: Nimm als Gebender zum Beispiel die eine Hand deines Lieblingsmenschen und massiere sie 10 Minuten lang. Dabei kannst du die Handinnenseite, jeden einzelnen Finger wie auch die Handaußenseite berühren und massieren. Im Anschluss wende dich für 10 Minuten der anderen Hand zu. Genauso kannst du deinen Lieblingsmenschen auch mit einer Kopf-, Rücken-, Bauch- oder Fußmassage verwöhnen und du wirst staunen, wie filigran sich ein einzelner Bereich des Körpers berühren lässt.
  • Formen der Berührung: Probiere verschiedene Varianten der Berührung aus. Du kannst deinen Lieblingsmenschen streicheln, die Haut kneten, mit deinen Fingern zwirbeln oder rollen, mit der flachen Hand auf ihr entlang fahren, auf ihr klopfen. Es gibt so viele Möglichkeiten. Dabei kannst du auch den Druck variieren. Besonders gut eignen sich für solch eine Übung der Rücken oder die Unterschenkel deines Gegenübers.
  • Geschwindigkeit der Berührung: Experimentiert mit dem Tempo der Berührung. Dafür kannst du zum Beispiel mit einem Finger in unterschiedlicher Geschwindigkeit über den Arm deines Partners oder deiner Partnerin fahren und er oder sie spürt, wie es sich anfühlt. Je langsamer und bewusster eine Berührung gegeben wird, desto mehr geht sie in der Regel unter die Haut.  
  • Berührung des gesamten Körpers: Besonders intensiv kann diese Berührung sein, denn dadurch fühlt sich der komplette Körper gesehen und gemeint. Lass dir gerne Rückmeldungen geben, wo und wie dein Gegenüber besonders gerne berührt werden mag, sodass du diese Berührung besonders ausbauen kannst.

Möge diese kleine Ideensammlung dir und deinem Lieblingsmenschen Lust machen, inmitten dieser berührungsarmen Zeit neue Möglichkeiten der Berührung zu entdecken. Und vielleicht geht es euch am Ende der Berührungserfahrung so wie uns bei der Kuschelparty und ihr liegt selig und zufrieden aneinander gekuschelt und lasst die erlebten Berührungen noch etwas nachklingen.

Über Dorothea Ristau

Dorothea Ristau arbeitet als Nährende Kuschlerin für Berührungshungrige in Dresden. Außerdem setzt sie sich dafür ein, dass Frauen mit Essstörungen auf ihrem Weg viele im wahrsten Sinne des Wortes berührende Erfahrungen machen.

Der Podcast „Berührende Momente für Frauen“ lädt Frauen, die infolge von sexuellem Missbrauch eine Essstörung entwickelt haben, dazu ein, sich dem Thema der respektvollen Berührungen auf behutsame Weise zu nähern.

Mehr über sie und ihre Arbeit unter https://wege-aus-der-essstoerung.de