Berührungshungrig: wie sich fehlende Berührungserfahrungen aus dem ersten Lebensjahr nachholen lassen
von Dorothea Ristau
Mir gegenüber sitzt eine junge Frau, nur wenige Jahre älter als ich. Sie wirkt klar in ihrem Auftreten, als sie zu erzählen beginnt: In unserer Gesellschaft würde ihrer Meinung nach der Kopf so überbetont und der Körper wird oftmals vergessen. Deshalb sei sie sehr gespannt auf die Erfahrung, die nun vor ihr liege.
Wir tauschen uns eine kleine Weile aus, bevor sie zum Kern vordringt. „Da ist noch etwas: Ich habe ein inneres Kind mitgebracht. Oder vielmehr einen kleinen Säugling.“ Es wird still im Raum und ein paar leise Tränen rollen. Nach einer Weile fährt sie fort: „Und dieser kleine Säugling sehnt sich so sehr nach Berührungen, weil er damals so wenige davon bekommen hat.“ Mit all meinen Sinnen bin ich bei ihr und nicke mitfühlend. „Ja…“, sage ich nur, „…ja.“ Mehr Worte sind in diesem Moment nicht nötig.
Die Bedeutung von Berührungen im Säuglingsalter
Wenn ein kleines Baby das Licht der Welt erblickt, so ist die Haut das wichtigste Sinnesorgan. Die meisten Sinne, wie zum Beispiel der Hör- und der Sehsinn, reifen nach der Geburt noch weiter. Nur der Tastsinn ist zu diesem Zeitpunkt bereits verhältnismäßig gut entwickelt. Somit ist die Haut das primäre Medium, über welches das kleine Wesen mit seiner Umwelt in Kontakt tritt.
Liebevolle Berührungen stärken die Bindung zwischen Mutter und Kind und unterstützen den kleinen Erdenbürger dabei, ein sicheres Bindungsverhalten zu entwickeln. Das Gefühl von Geborgenheit steigt, das Vertrauen in diese Welt und seine Menschen wächst und dank vieler angenehmer Berührungserfahrungen gelingt ein guter Start ins Leben.
Inzwischen ist eine Vielzahl an positiven Auswirkungen von Berührungen auf das Gefühlserleben im Säuglingsalter erforscht: Häufiger Körperkontakt wirkt nicht nur angstmindernd und beruhigend, es werden auch eine Menge Glücksgefühle freigesetzt. Kinder, die oft berührt werden, sind entspannter und durch die Gefühlsregulation von außen ist das Kind mit der Zeit zunehmend in der Lage, sich selbst zu regulieren. Häufige Berührungen machen also psychisch stark und zudem speichert der Körper die Erinnerung an die Zuwendung ab, sodass der Mensch diese als eine Art Lebensgefühl mit in sein Leben hinaus nimmt.
Doch auch auf körperlicher Ebene lassen sich eine Vielzahl an positiven Effekten beobachten: Durch Berührungen wird das Hormon Oxytocin ausgeschüttet – ein Bindungs- und Glückshormon, was automatisch den Cortisolspiegel sinken lässt. Die Atmung wird stabiler, das Wachstum der Nerven wird angeregt und das Gehirn entwickelt sich besser. Außerdem stärkt eine häufige Oxytocinausschüttung das Immunsystem.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Säuglinge, die viel berührt werden, schneller wachsen, sich besser entwickeln, sich glücklicher fühlen und selbstsicherer im Leben unterwegs sind.
Die Realität der letzten Jahrzehnte
Doch trotz dieser bewegenden Erkenntnisse aus der Forschung sah die allgemeine Praxis bis vor wenigen Jahrzehnten noch ganz anders aus:
Neugeborene wurden direkt nach der Geburt von der Mutter getrennt, sodass es den Kleinen verwehrt wurde, nach der aufregenden Reise der Geburt behutsam in Mamas Armen anzukommen.
Im Umgang mit dem Baby wurden Mütter dazu angehalten, ihr Kind nicht zu verwöhnen, es möglichst viel abzulegen und es sogar schreien zu lassen. Hintergrund dieser Praktiken war eine starke Angst, dass das Kleine zu einem nicht zu bändigendem Tyrannen heran wächst, wenn ihm zu viel Aufmerksamkeit zuteil wird. Gestillt wurde – wenn überhaupt – nicht nach Bedarf, sondern nach der Uhrzeit, sodass die Säuglinge neben der von Mama kommenden körperlichen Nahrung auch oft auf viel seelische Nahrung verzichten mussten.
Dabei braucht das kleine Wesen während seiner ersten Lebensmonate vor allem eins: Körperkontakt. Erfährt es, dass seine Bedürfnisse wichtig sind und ernst genommen werden, so wird es auf emotionaler Ebene genährt. Der starke Hunger nach Kontakt, nach Einstimmung und nach liebevoller Zuwendung, der in jedem kleinen Menschenwesen steckt, wird von Anfang an gestillt. Auf diese Weise wächst das Kind zu einem zufriedenen Erwachsenen heran, der in der Lage ist, für sich selbst freundlich zu sorgen und ebenso für andere da zu sein. Denn die Bindungs- und Kontakterfahrungen, die ein Mensch während seiner frühsten Kindheit macht, prägen sein späteres Leben von Grund auf.
Den Berührungshunger nachträglich stillen
Doch was passiert nun mit den Menschen, ja, ganzen Generationen, die noch immer einen starken Berührungshunger in sich tragen, weil ganz elementare Grundbedürfnisse aus dem ersten Lebensjahr nicht erfüllt wurden sind? Müssen diese sich mit dem erlebten Mangel irgendwie abfinden und werden sie nie in der Lage sein, gut für sich selbst zu sorgen sowie in einen erfüllten Kontakt mit anderen Menschen zu treten?
Auch wenn in der Forschung an dieser Stelle noch viele Fragen offen sind, so machen erste Stimmen Mut, dass es nie zu spät für eine glückliche Kindheit – oder vielmehr eine glückliche Säuglingszeit – ist.
Kurze Zeit später liegen die junge Frau und ich jedenfalls eng aneinander gekuschelt auf einem Futon. Wieder ist es still im Raum, doch diesmal ist die Stille eine andere. Ein wärmendes Gefühl der Zufriedenheit liegt in der Luft, als ich sie in meinem Arm halte und sanft ihre Hand streichle. Sie rückt noch ein Stück näher an mich heran, ich verändere nur wenig die Position meines Armes und halte sie weiter mit aller Präsenz. Mit jeder Minute, in der wir so eng aneinander gekuschelt da liegen, fällt sie in einen immer tieferen Zustand der Entspannung. Die Atmung wird langsamer und tiefer und auf ihrem Gesicht ist ein Lächeln zu sehen.
Die Kleine, die damals so wenig Halt und so wenig Berührung erfahren haben muss, kann ich regelrecht spüren. Wie berührungshungrig sie sein muss! Jetzt genießt sie die Sicherheit, meine langsamen Bewegungen auf ihrer Haut, die Wärme und die Zuwendung. Endlich ist Raum für Bedürftigkeit, für Sehnsucht und für ein erstes, vorsichtiges Nachnähren.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wechseln wir die Position. Ich kuschle mich von hinten an und streiche sanft über den Rücken und den Oberarm der Frau. Noch weiter fällt sie in diesen Zustand der glückseligen Entspannung hinein. Die Rezeptoren ihrer Haut nehmen jede Berührung in sich auf. Auch wenn von außen betrachtet gar nicht viel passiert, so erlebt sie innerlich gerade ein Feuerwerk der Glücksgefühle. Für anderthalb Stunden steht die Zeit still und es zählt nur noch der Moment.
Nach dem nährenden Kuscheln landet sie nur langsam wieder auf dieser Welt. Wir liegen noch eine Weile nebeneinander und reden ein wenig, bevor wir uns voneinander lösen. Diese Zeit ist für sie wichtig, bevor sie wieder in ihren Alltag zurückkehrt.
„So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt sie beim Abschied glücklich. „Und wir sehen uns auf jeden Fall wieder.“
Über Dorothea Ristau
Dorothea Ristau unterstützt beim „Nährenden Kuscheln“ in Dresden berührungshungrige Menschen dabei, ihren starken Berührungshunger nachhaltig zu stillen.
Außerdem forscht sie zu der Frage, wie Frauen, die infolge von sexuellem Missbrauch eine Anorexia nervosa entwickelt haben, mithilfe von Berührungen mit ihrem Körper in Kontakt kommen können.
Mehr über sie und ihre Arbeit unter www.wege-aus-der-essstoerung.de