Berührung bei Depression

 in Allgemein, Projekte

von Mariell Kiebgis

Ich weiß gar nicht was mich immer so zieht.

Kaum sind Tage und einige Wochen vergangen,

Sitz ich hier in meiner Postleitzahl und

Werde dunkel im Dunkelsein (Rilke).

Ich bin allein und bald bewege ich mich nicht mehr;

Verliere die Hoffnung und den Trost.

Sehe den aufgeschnittenen Himmel nicht;

Und nicht das dahinter liegende Tal. 

Von Sonnenstrahlen zum Leuchten gebracht.

Wo ist mein Helles und Goldenes?

Du bist nicht in mir, meine Seele, wo? 

Über Berührung finden wir einen Zugang zum depressiv erkrankten Menschen. Das Nicht-Spüren-Können in der Depression wird unterlaufen, die Angst und Unruhe wird reduziert. Der Raum zum Wieder-Empfinden öffnet sich und wird in der neuen Gegenwart sogar sprachfähig erlebt. Sehr eindrucksvoll ist, dass immer wieder depressive Menschen präzise berichten, wie ihre depressive Wahrnehmung während der Massage und danach zum Stillstand kommt und die wieder wahrnehmbare Lebensenergie auch einige Tage anhält. In dieser Zeit kann der Mensch seinen eigenen Körper in seiner natürlichen Vitalität wieder erleben. So wird aus dem in Minuten gemessenen Zeitabschnitt erfüllte Gegenwart, die sich auch wieder in die Zukunft erstreckt.

Erleidet ein Mensch eine Depression, so erleidet er vor allem auch eine Körpererkrankung. Die angespannte Körperhaltung ist vergleichbar wie eine Betondecke, die sich erdrückend auf den Körper legt. Darunter finden die Organe wenig Raum und verspannen ebenso wie die Muskulatur. Das Herz ist eingeengt, die Lunge, der Magen, der Darm. Die tiefen Verspannungen blockieren Wirbel. Eine Berührung deren Effekte eine Befreiung dieser Befindlichkeit darstellt, braucht eine entsprechende Herangehensweise.

Für uns als Körpertherapeuten ist es eine segensreiche Arbeit, wenn der depressive Mensch sich uns anvertraut. Mit ihm geht es jetzt nicht nur um eine „gute Massage“, an deren Ende wir in glückliche Augen schauen. Hier geht es tatsächlich um den „reinen Dienst“ am Menschen. Gereifte Berührungskompetenz ist gefragt. 

Unser „Gegenüber“ bei der Massage ist ein „zurückgezogener innerer Beobachter“, der in den Berührungen kaum wahrnehmbar ist. Unser Dialogangebot muss daher auf der biologischen und neurobiologischen Ebene präzise stattfinden: Kenntnisse über die Ansammlungen von C-taktilen Nervenfaserfeldern, auf denen wir langsame (3 cm pro Sekunde) Streichungen vornehmen sind notwendig; ebenso eine kontinuierliche präsente Berührungsqualität, die niemals die Energie bei einer Abfolge verliert.

Hilfreich ist bei der Massage auf Kleinigkeiten zu achten: gibt es Gänsehaut; lässt ein Gelenk nach; kann die Drehung der Hand erfolgen; verändert sich die Atmung; ist die Hauttemperatur unterschiedlich, kann in bestimmten Körperbereichen losgelassen werden; gelingt Kontakt, wenn ja, wo und in welcher Stärke und welcher Dauer; wurde ein Kribbeln unter der Kopfhaut wahrgenommen?

Diese Wahrnehmungen sind wichtig für das Nachgespräch. Viele sind auch nach der ersten Behandlung nicht davon überzeugt, dass die Berührungen Ihnen ihre negativen Gedanken wegnehmen. Das Verständnis über die Zusammenhänge von Körperhaltung, Gedanken und Gefühle sowie der Produktion von Hormonen durch Berührung ist noch nicht vorhanden und kann erst in den folgenden Terminen eine erklärbare Möglichkeit werden.

Über Mariell Kiebgis

Mariell Kiebgis ist Massage- & Körpertherapeutin, Ausbilderin, Dozentin und Autorin. Sie arbeitet seit den 90zigern an der Entwicklung der psychoaktiven Massage und beschäftigt sich vielschichtig mit dem Thema Berührung. Ihr Herzblut liegt in der Berührungssprache und im Wachstum menschlicher Ressourcen und Fähigkeiten.

Mehr über sie und ihre Arbeit auf ihrer Webseite www.koerpertherapie-am-bodensee.de

2018 veröffentlichte Mariell Kiebgis gemeinsam mit dem Berührungsforscher Prof. Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen das Buch »Berührung – warum sie brauchen und wie sie uns heilt«.