Wenn der Hunger der Seele nicht gestillt wird – Berührung in Zeiten von Corona
Wenn der Hunger der Seele nicht gestillt wird – Berührung in Zeiten von Corona
von Mariell Kiebgis, 20.4.2020
Als Menschen brauchen wir Berührung – das wird durch eine Fülle von Daten aus der Berührungsforschung belegt. Doch jetzt leben wir in Isolation, die folgenreich sein kann. Wir sind uns noch lange nicht bewusst, welche nachhaltigen Wirkungen Berührungsdeprivation auf jeden einzelnen Menschen hat, ob nun Fötus, Baby, Säugling, Kleinkind, Teenager, Erwachsene, Ältere und Alte, Behinderte, Bewohner von Alten- und Pflegeheimen, Sterbende oder Menschen in helfenden und unterstützenden Berufen.
Dieser Artikel möchte Dich zum Nachdenken anregen, indem er Dir verdeutlicht, wie wichtig Berührung für die Gesundheit von Körper und Seele ist und welche Folgen sich ergeben können, wenn Berührung fehlt.
Berührung
Berührung ist die Basis für eine optimale menschliche Entwicklung. Unser Leben ist von innen nach außen gerichtet. Wir erleben unsere Welt und uns selbst mit allen unseren Sinnen. Augenblicklich haben wir keine Lebensaussicht, denn in einer Aussicht ist eine Zukunft impliziert. Die Herausforderung, sich im Hier und Jetzt gut einzurichten, können Menschen, die sich in Achtsamkeit des Lebens geübt haben. Viele können es nicht und verharren in der Warteschleife, in der Hoffnung auf eine Veränderung, mit dem Blick auf eine ungewisse Vorausschau oder in eine bereits erlebte Rückschau.
Worte allein genügen oft nicht. Die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht ist viel umfassender. Blickkontakt, Gesten, Mimik, Intonation, Körperhaltung – durch all diese Dinge entsteht eine breitere, tiefere, reichhaltigere Kommunikation. Nur sieben Prozent der menschlichen Kommunikation wird durch Worte bewerkstelligt; die anderen 93 Prozent entstehen durch zahllose non-verbale Signale (M.Changaris (2015): Berührung und Kontakt).
Berührung: biologisch-seelisch-gesundheitlich
Berührungen und alle Berührungstherapien erzielen die Senkung des Blutdrucks, stärken die Abwehrkräfte, beeinflussen positiv die Herzfrequenz, fördern die Schlafqualität, wirken positiv auf den Atemrhythmus uva.
Berührungen erzielen Reduzierungen von Depression, Stress, Ängsten und Schmerzen. Sie harmonisieren das Kohärenzgefühl, festigen Selbstwert und Zugehörigkeit, beruhigen, geben Schutz und schenken Sicherheit. Berührungen helfen nachweislich bei chronischen Schmerzen, Schmerzen nach Verletzungen, postoperativen Schmerzen oder Fibromyalgie.
Das heranwachsende Leben: Fötus – Baby – Säugling – Kleinkind
Schon im Mutterleib lernt der Fötus auf Erlebnisse der Mutter zu reagieren. Eingehüllt in der Gebärmutter erfährt es die ersten Berührungen, durch das Streicheln des Bauches, durch die Stimme. Es tritt gegen die Wand der Gebärmutter. Die erste Bindung beginnt im geschützten Raum (Bonding).
Säuglinge und kleine Kinder lernen durch die Interaktionen, wie Lächeln, Gesten, Lachen, Kuscheln. Raufereien sind zum Beispiel Berührungen, die die Familie zusammenhalten, Sicherheit und Zugehörigkeit vermitteln. Studien belegen, dass für viele Störungen Berührung eine Lösung ist – wir sehen das zum Beispiel an der Känguru-Methode oder dass die Temperatur eines Babys zwar im Brutkasten im gesunden Bereich bleibt, allerdings Schwankungen aufweist. Im direkten Hautkontakt zur Mutter schwankt sie jedoch nicht mehr. Die Körpertemperatur der Mutter passt sich so an, dass die Temperatur des Babys stabil bleibt.
(Ludington-Hoe, S.M., Lewis, T. , Morgan, K., Cong, X., Anderson, L. u. Reese, S. (2006): Breast and infant temperatures with twins during shared kangaroo care. Journal of Obstetric, Gynecologie – Neonatal Nursing, 35 (2), S. 223-231).
Teenager
Im Heranwachsen entwickeln wir die Fähigkeit zur Selbstregulation. Zunächst durch die Familie mit Berührungen mit dem Streicheln auf der Haut nach einem Sturz z.B. wenn wir als Kind auf das Knie gefallen sind, dann kennen vielleicht einige, dass die Mutter mit einer Umarmung und dem Lied „Heile, heile Gänschen“ Trost geschenkt hat, die uns beruhigt hat. Damit bleibt der Schreck kein starres Negativerlebnis. Abgespeichert wird es als eine „überlebbare Verletzung“.
Später dann mit den unterstützenden und stärkenden Berührungen, wie ein leichtes Schulterklopfen „Nimm es nicht so schwer“. Diese Fähigkeiten entwickeln wir zeitlebens weiter, so dass wir in der Lage sind, auch uns selbst zu beruhigen nach einem emotionalen Ereignis. Das nennen wir heute Emotionsregulierung, die fast jede Berührungstherapie als Ziel hat.
In einer Studie wurde geforscht, welchen Einfluss eine Verbindung zwischen der Berührung in der Familie, die man in früher Kindheit erlebt hat und einer Depression bei Erwachsenen hat.
(Takeuchi, M.S., Miyaoka, H., Romoda, A. u.a, (2010): The effect of interpersonal touch during childhood on adult attachment and depression: A neglected area of family and developmental psychologiy? Journal of Child an Familiy Studies 19:109-117)
Erwachsene
Die Wichtigkeit von Berührungen im Erwachsenenalter belegen zahlreiche Studien: zum Beispiel, dass Hautkontakt die Ausschüttung von Oxytocin erhöht. Oxytocin hat die Hauptfunktion soziale Bindungen herzustellen und das Empfinden, sich bei anderen wohl zu fühlen, zu stärken. Dies fördert soziale Gemeinschaften, um Krisen zu überstehen, es stärkt das Miteinander und stabilisiert die Fähigkeit zur Resilienz.
Intime Berührungen
Die Entwicklung der Sexualität gehört zum Erwachsenwerden und bildet ein wichtiges Fundament zumGlück und zur Gesundheit eines Paares. In der aktuellen Lage können Paare die Auszeit nutzen, um wirkungsvolle Wege der Kommunikation durch einfühlsame Berührungen zu lernen. Intime Berührungen haben Auswirkungen auf das gemeinsame Wohlbefinden. Es lohnt sich, Fähigkeiten hierin zu erlernen, um die eigene Beziehung zu festigen.
Ältere Menschen
Bei uns in Deutschland sind 21% Prozent die über 65 Jahre sind (Stand 2001, www.statistica.com) und alleine leben. Das Maß an Berührungen sinkt mit jeder Falte im Gesicht, mit jeder körperlichen Veränderung, die sich ins Älterwerden hineinbewegt. Ein schweres Schicksal der modernen Zeit.
Menschen, die in Pflegeeinrichtungen leben oder Menschen mit Behinderungen erfahren meist nur sogenannte „Tranksaktionsberührungen“: die Versorgung des pflegebedürftigen Körpers, wie z.B. das Waschen, Anziehen, Haare kämmen. Dieses Mindestmaß von Berührungen führt in die Isolation. Und Einsamkeit führt zum Tod. Dabei würden Entspannungsübungen und Massagen die Lebensqualität verbessern. Ich brauche nicht hervorzuheben, welche seelische Quälerei derzeit lang verheiratete Paare ertragen müssen, die durch die Maßnahmen voneinander getrennt werden, da einer von ihnen im Pflegeheim leben muss.
In einer Studie über ältere Menschen wurden die Wirkungen von Entspannungsübungen mit denen einer Massage verglichen. Bei der Gruppe, die eine Massage erhielt, waren eine gesunde Senkung der Herzfrequenz und des Blutdrucks, sowie eine erhebliche Senkung ihres Angstniveaus häufiger als bei der Kontrollgruppe, die Entspannungsübungen machte, zu verzeichnen.
(Bush, E. (2201): The use of human touch to improve the well-being of older adults. A holistic nursing intervention. Journal of Holistic Nursing, 19 (3), S. 256-270).
Sterbende
Ich brauche auch hier nicht gesondert hervorzuheben, welch grausames Schicksal derzeit Sterbende und ihre Angehörigen erleben müssen. Die unmittelbare Wirkung einer wortlosen Verbundenheit durch Berührung kann eine Beziehung vertiefen, die bei den Bewusstseinsschwankungen verloren gegangen zu sein schien. Pflegende und mitfühlende Berührungen bei Sterbenden erleichtern nach vielfältiger Erfahrung, den oft so schweren Übergang vom Leben in den Tod. Diese positiven Auswirkungen können wir wahrscheinlich in ihrer ganzen Fülle kaum beschreiben. Palliativpfleger und –pflegerinnen haben viele Erfahrungen wie erleichternd bei sterbenden Menschen Körperkontakt in einer entsprechend angepassten Form sein kann. Hilflosen Angehörigen geben sie den Rat, ihrem Angehörigen mit Körperkontakt, wie das „Hand halten“ am Ende zu begleiten. Sie erleben den stiellen Moment des Abschied dann nicht mehr hilflos und haben das Gefühl für ihren Angehörigen nocht etwas tun zu können.
(Müller-Oerlinghausen; Kiebgis; 2018; „Berührung – warum wir sie brauchen und wie sie uns heilt“, Ullstein Berlin)
Emotionsregulierung
Die eigenen Emotionen zu regulieren, lernen wir von Kindes Beinen an. Das gehört zu einer gesunden Entwicklung. Störungen, die eigenen Emotionen zu regulieren, können durch emotionale Belastungen im Reifeprozess entstehen, wie zum Beispiel Scheidung der Eltern, Krankheit oder Schicksalschläge. Eine hochsensible Klientin berichtete: „ Wenn mich eine schwer erträgliche Emotion bemächtigt, droht mir, mich davon überwältigt zu fühlen. Es fällt mir dann schwer, rational zu handeln. Was da alles in meinem Gehirn geschieht, weiß ich nicht genau. Ich weiß aber, dass eine Berührung, eine Umarmung, ein mitfühlender Blick, eine nickende Zustimmung diese schwer erträgliche Emotion lindert“. Berührung ist eine unerschöpfliche Quelle, auch für die Herstellung seelischen Gleichgewichtes.
Aktuelle Corona-Maßnahmen und ihre Wirkung
Maskenpflicht
Kinder lernen durch die Mimik der Gesichter von Mutter, Vaters, Geschwister, Großeltern und anderen Menschen ihre Welt im Außen zu begreifen. Sie beobachten und lernen die Zusammenhänge von Stimme, Gestik und Gesichtsausdruck. Sie übernehmen das Gesehene und überprüfen an der Reaktion
der Anderen, ob sie die „Sprache“ gelernt haben. Unter der Maskenpflicht werden Säuglinge und Kleinkinder die Erwachsenen nicht mehr verstehen. Das betrifft nicht (nur) den kurzen Einkaufsweg durch den Supermarkt, sondern U-bahn-Fahrten oder auch Fahrten mit dem Zug.
Auch Erwachsene werden im Straßenbild zunehmend mehr Menschen mit Masken sehen. Das Lächeln und Kommunizieren wird erheblich erschwert. Die Rücknahme der freundlichen Kontaktpflege, die der sozialen Kommunikation dient, ist Folge davon. Es wird einfach schwerer sein, die Befindlichkeit und die Absicht der Kontaktqualität eines Fremden im Supermarkt, im Bus und Bahn, in den Geschäften, hinter den Theken zu erkennen. Es wird zu anstrengend, auch hier müssen wir mit der Rücknahme an dem Interesse für ein Miteinander rechnen.
Alte, pflegebedürftige Menschen, Menschen mit Demenz u.ä., erkennen durch die Masken ihre Pfleger nicht mehr. Misstrauen und Unsicherheit, Hilflosigkeit und das Gefühl, allein zu sein wird sich ausbreiten. Für das pflegende Personal wird es eine Herausforderung sein, nur durch die Augen und ggf. durch eine distanzierte Körpersprache vertrauensvollen Kontakt herzustellen. Es ist nicht zu verdenken, dass auch diese helfenden Menschen auf Dauer diese zusätzlichen Anstrengungen reduzieren.
Unsere Haustiere werden ebenso irritiert sein, wenn sie von den Lippen nicht ablesen können, was Frauchen oder Herrchen beim Spaziergang von ihnen wollen, wenn wir uns an das Masken tragen gewöhnt haben
Auch gehörlose Menschen können im Supermarkt „kein Wort mehr verstehen“.
Was ist zu tun
- Psychologen und Politik
Die Psychologie und Politik ignoriert leider auch heute noch den Einfluss der Berührung auf die menschliche Entwicklung. Mehr Aufklärung, Interesse und Verständnis für die Rolle der Berührung würde dazu führen, dass mehr und bessere medizinische, klinische und gesellschaftliche Interventionen entwickelt werden. Vermutlich wird es helfen, ein breites Spektrum gesundheitlicher Probleme zu heilen und zusätzlich dazu beitragen, dass Menschen lernen, ein erfüllteres Leben zu leben.
In meinen Augen nehmen noch viel zu viele Psychotherapeuten in Kauf, dass ihre Klienten den Kontakt zu ihrer Welt verlieren, wenn sie die Berührung als Intervention bei Behandlungen nicht effektiv nutzen. Auch in Paartherapien fehlen grundlegende Kenntnisse darüber, Paaren den Zugang für Berührungen zu ermöglichen, die das Miteinander genussvoll und damit auch heilsam zu gestalten. Die meisten Paarprobleme liegen am Mangel von Kenntnissen über sinnliche Körperberührungen.
- Berührungstherapien
Über die vielfältigen Effekte und deren positive Wirksamkeit von Berührungen habe ich bereits geschrieben. Darüber hinaus ermöglichen sie einen Zugang den Zusammenhang von Körperhaltung, Gefühl und Gedanken zu verstehen und damit selbst die eigene Emotionsregulierung herbeizuführen. Jedem Menschen sollte dieser Zugang ermöglicht werden.
Gehirn
Unser Gehirn passt sich an und verändert sich in seinem Bemühen, die Realität abzubilden. Werden wir keine Maßnahmen gegen den bereits bestehenden „Trend“ in eine berührungslose Gesellschaft vornehmen, werden sich unsere Gehirne kollektiv in ein Vergessen verbinden. Die Repräsentanz, Berührungen auf jedem Körperteil in seiner Komplexität zu erfassen, wird verkümmern.
Die sich dadurch entwickelte Spezies Mensch wird sich mehr mit unterdrückten Bedürfnissen, überdeckten Ängsten und Unsicherheiten, Kontakt- und Beziehungsschwierigkeiten beschäftigen, als mit der emotionalen, sozialen Reifung einer gesunden, resillienz-starken Gesellschaft.
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Über Mariell Kiebgis
Mariell Kiebgis ist Massage- & Körpertherapeutin, Ausbilderin, Dozentin und Autorin. Sie arbeitet seit den 90zigern an der Entwicklung der psychoaktiven Massage und beschäftigt sich vielschichtig mit dem Thema Berührung. Ihr Herzblut liegt in der Berührungssprache und im Wachstum menschlicher Ressourcen und Fähigkeiten.
Mehr über sie und ihre Arbeit auf ihrer Webseite www.koerpertherapie-am-bodensee.de
2018 veröffentlichte Mariell Kiebgis gemeinsam mit dem Berührungsforscher Prof. Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen das Buch »Berührung – warum sie brauchen und wie sie uns heilt«.