Werden wir unberührbar? Ein Buchtipp zum Nachdenken

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von Silke Schuster

Das Phänomen „Hunger“ kennt nicht nur der Magen, sondern auf besondere Weise auch die Haut. Berührungsforscher haben das längst bestätigt. Erwiesen ist auch, dass soziale Bindungen und körperlicher Kontakt essenziell für die emotionale und kognitive Entwicklung eines Kindes sind. Doch auch die großen Menschen brauchen Nähe, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Körperkontakt hat so viele Funktionen – zum Beispiel kann Hände halten enorm beruhigen, vor allem wenn die andere Hand einer vertrauten Person gehört.

Berührung in Zahlen und Gedanken

Smartphones haben unsere Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes im Griff.

Statistiken sagen, dass der Mensch mehr als drei Stunden täglich auf seinem Gerät herumwischt. Forscher werfen die Zahl 88 in den Raum: So häufig greift der Durchschnittsbürger täglich zu seinem Smartphone, um etwas vermeintlich Wichtiges nachzuschauen. Die Zahl der täglichen Berührungen innerhalb einer Partnerschaft dürfte deutlich darunter liegen. Schon allein deshalb, weil das Smartphone immer dabei ist, die Partnerin/der Partner aber nicht.

Schauen wir uns bewusst an öffentlichen Orten um, ist erkennbar, dass die Kommunikation untereinander gern vom Smartphone-Konsum unterbrochen wird. Ob Paare oder Cliquen – das Smartphone liegt meist griffbereit und unterbricht das persönliche Gespräch immer wieder, weil es Aufmerksamkeit „fordert“.

Die Zahl der Single-Haushalte steigt seit Jahren kontinuierlich. Inzwischen leben mehr als ein Drittel der Menschen allein. Wir sind flexibel und mobil, die technische Kommunikation verändert sich rasant – und damit auch unsere Lebensweise. All diese Faktoren begünstigen den Rückzug körperlicher Nähe.

Die „technologisierte Kommunikation“ ist Fluch und Segen zugleich. In Zeiten hoher Mobilität und großer Distanzen, kann sie Phasen des „Alleinseins“ überbrücken. Doch realen Kontakt mit lieben Menschen kann sie niemals ersetzen.

Bedeutung von Berührung und Nähe

Auch Erwachsene kommen nicht ohne aus. Wir brauchen alle Nähe. Wobei die Dosis sehr individuell ist. Berührung kann uns auch zu viel werden, uns ekeln lassen oder verwundbar machen. Denn lassen wir die Nähe und Berührung eines anderen Menschen zu, öffnen wir uns. Das macht natürlich auch verletzbar.

Mit genau diesem Thema setzt sich Elisabeth von Thadden, ZEIT-Redakteurin, in ihrem Buch „Die berührungslose Gesellschaft“ auseinander. Darin geht sie vielfältigen Facetten auf den Grund: Fingerspitzengefühl kommt ebenso zum Zuge wie das Recht auf Unversehrtheit (auch im historischen Kontext), die freiwillige Distanz oder der Körperarbeitsmarkt.

Die Autorin hat u. a. mit Tastsinnexperte Martin Grunwald über die Bedeutung von Berührung und die Anzeichen eines Rückgangs von Berührung gesprochen. So benennt der Experte drei Symptome, die auf eine große Veränderung hindeuten: die Expansion der Wellnessbranche, das steigende Angebot sogenannter Kuschelpartys und die wachsende Zahl an Haustieren.

Der Effekt von Körperkontakt

Der Mensch benötigt Hautkontakt für seine Entwicklung. Körperkontakt kann nachweislich dazu beitragen, Stress zu mindern und das Immunsystem zu stärken. Von Thadden schreibt: „Wer in angenehmen Berührungen lebt, leidet weniger an Depressionen.“ (S. 20)

Eine Selbstberührung kann die Berührung durch einen anderen Menschen jedoch niemals ersetzen, denn erst im Kontakt mit dieser anderen Person spüren wir: Wir sind nicht allein!

Insofern gilt der hoch spezialisierte Tastsinn mit seinen Rezeptoren für Druck, Schmerz, Wärme und Kälte als einziger Sinn, ohne den der Mensch nicht überleben kann. Im anderen Extrem kann ihn das aber auch zu Grunde richten – Stichwort Gewalt.

Einsamkeit versus Alleinsein

Auch inmitten einer Gruppe Menschen oder in einer Beziehung können wir uns einsam fühlen. Die Qualität von Beziehungen ist entscheidend. Alleinsein kann wertvoll sein, uns Kraft schenken und die Kreativität ankurbeln. Sie ist aber nicht zu verwechseln mit Einsamkeit, die keinerlei energiespendende Ressourcen hat. Im Gegenteil: Sie kann Angst und Misstrauen schüren und damit wiederum Nähe verhindern. Ein Teufelskreis.

Grundsätzlich kann uns die Nähe anderer Menschen Schutz vermitteln, genauso aber auch Angst machen. Das Verständnis der körperlichen Distanz zwischen zwei sich unbekannten Menschen ist kulturell unterschiedlich: Im Westen gilt ein Mindestabstand von 45 cm zum nächsten Körper als sicher. Wer schon einmal erlebt hat, wie ein fremder Mensch in den eigenen „Schutzraum“, die als sicher empfundene Distanz, eindringt, weiß wie sich das anfühlt: unangenehm, bedrohlich, aufdringlich.

Körperarbeit als Form von Berührung

Im Buch kommt auch eine Masseurin zu Wort. Sie spricht mir als Thai Yoga Bodyworker aus der Seele, wenn sie sagt: „ … Berührung ist möglich. Sie hat mit Hingabe zu tun. Damit, loslassen zu können, die Kontrolle, die wir alle kulturell gelernt haben, einmal abzugeben. Mit Vertrauen.“ (S. 43)

Wenn ich Berührungsangst habe oder die Chemie zwischen der Masseurin/dem Masseur und mir nicht stimmt, werde ich entweder gar nicht erst hingehen oder mich nicht auf die Behandlung einlassen können. Bin ich hingegen offen, finde die Person sympathisch und spüre ihre professionelle Art zu berühren, kann ich mich entspannen: „Berührung ist eine Wechselbeziehung: man kann spüren, dass der andere es gut meint.“ (S. 43)

Fazit

Es geht, wie in den allermeisten Bereichen, um die Balance und um die individuellen Bedürfnisse. Nähe und Körperkontakt sind essenziell; Rückzug und Alleinsein können uns nähren – der eine braucht es mehr, der andere weniger. Auch wenn jeder Mensch auf Berührung angewiesen ist, so hat jeder auch ein unterschiedliches Bedürfnis nach Nähe. Wo bei dem einen Menschen aufgrund von Erfahrungen die Angst vor Verletzung überwiegt, ist bei dem anderen das Bedürfnis nach Nähe so groß, dass Kuschelpartys mit fremden Menschen eine liebgewonnene Option werden. Letztlich geht es immer um die Balance: „Sehnsucht nach Nähe, Angst vor unfreiwilliger Nähe. Sehnsucht nach Abstand. Angst vor Einsamkeit“ (S. 23).

„Die berührungslose Gesellschaft“ bietet einen tiefen Einblick in die Berührungskultur und nimmt viele Aspekte unter die Lupe. Das Buch hat einen leicht wissenschaftlichen Touch, aber wen das nicht abschreckt, der kann hier viel erfahren – und sich seine eigene Meinung bilden: Werden wir unberührbar?

Zum Buch:

Elisabeth von Thadden

Die berührungslose Gesellschaft

C.H.Beck Verlag, München 2018, 205. S., € 16,95

Über Silke Schuster

Silke ist Yogalehrerin (E-RYT 200h/AYA und RYT 500h/AYA), Thai Yoga Bodyworker und arbeitet unter dem Namen „Wortschusterei“ als Texterin und Redakteurin. Sie unterrichtet achtsames Vinyasa Yoga. Verwurzelt im Tanz, kreiert sie immer wieder Music Flows frei nach dem Motto „Let it flow & breathe to the beat!“. Yoga und Thai Yoga bilden für sie persönlich die perfekte Einheit – seit mehreren Jahren gibt sie Thai Yoga-Einzelsessions und unterrichtet Workshops, ab 2019 als zertifizierte Thai Yoga Lehrerin auch Ausbildungen. Ihre Begeisterung fürs Schreiben und für Yoga teilt sie auf ihrem Blog Lebensflow.