Yoga für Senioren: Warum es mit Berührung leichter geht
von Sinah Müller
Ein Erfahrungsbericht
10 Frauen, alle über 75 Jahre, sitzen auf gewöhnlichen Stühlen im Kreis und warten gespannt. Sie haben sich zum Kurs „Yoga für Senioren mit dem Stuhl“ angemeldet. Für die meisten ist es die erste Yogastunde. Alle haben sich schick zurechtgemacht. Mit großen Augen schauen sie mich an. Worauf sie sich da eingelassen haben?
Ich bin ihre Yogalehrerin und könnte locker ihre Enkelin sein. Ich bin genauso aufgeregt wie die Damen. Mit meinen 29 Jahren: Wie soll ich wissen, wie es ist, 85 oder älter zu sein? Kann ich sie in ihrer Lebensrealität abholen? Doch dann sage ich mir: atmen und achtsam sein, die „Methodik“ geht doch in jedem Alter gleich.
Ausrichtung auf das Machbare statt auf Mangel
Die Idee der Stunde ist einfach. Wir mobilisieren Gelenke, lockern Muskeln und atmen. Wir bewegen uns sanft und gerne langsam. Wir bleiben auf dem Stuhl sitzen oder hinter ihm stehen. Keiner muss sich auf den Boden quälen. Es gibt auch keine Räucherstäbchen, keine pinken Leggings und keine Mantras in einer Sprache, die wir nicht verstehen.
Wir richten den Fokus auf das, was noch geht. In dieser Stunde interessieren keine Krankheiten und Einschränkungen. Ich frage bewusst nicht nach. Die Teilnahme ist unter Umständen mit dem Arzt abgesprochen. Wenn mal was nicht geht, hören wir eben auf. Und das ist kein Fehler, im Gegenteil. Wir vertrauen unserem Körper. Er sagt uns, wann es zu viel ist. Der Körper kann viel mehr als der Kopf denkt.
Diese positive Einstellung ist nicht selbstverständlich und muss manchmal ganz neu gelernt werden: Vertrauen, Zuversicht und auch Dankbarkeit, für all das, was der Körper uns erlaubt, zu tun.
Zur Einstimmung: Berührung statt OM
Nach dieser Erklärung entspannen sich die Gesichter. Doch sie rechnen nicht mit dem, was als nächstes passiert. Ich werde jetzt jedem eine Berührung schenken. Wer das nicht möchte, gibt mir ein Zeichen. Einige lachen, manche schmunzeln, andere gucken erschrocken. Eine Drohung?
Nach ein paar einstimmenden Worten bewege ich mich langsam von Frau zu Frau. Einige umarme ich. Bei anderen lege ich nur die Hände auf die Schultern. Wieder anderen massiere ich den Kopf. Alle lassen die Berührung zu. Alle Körper werden irgendwie weicher, bei manchen ist es ganz deutlich zu spüren, wie etwas nachgibt und loslässt. Oft folgt ein tiefer Seufzer.
Danach ermutige ich vorsichtig, sich selbst zu berühren. Wir massieren Muskeln, streichen über Bauch, Herz und Kopf. Wir lassen die Hände auf der Vorderseite des Körpers ruhen und spüren den Atem unter den Händen. Sein auf und ab, sein Kommen und Gehen. Das fühlt sich gut an. Vertraut irgendwie.
Berührung steckt an
Neben dieser angeleiteten Berührung im Setting der Yoga Stunde hat sich eine andere Gewohnheit etabliert. Zur Begrüßung vor der Stunde wird sich umarmt, auch zur Verabschiedung danach. Ganz freiwillig, nicht auf Kommando, auch nicht jeder jeden. Wenn es zur Umarmung kommt, dann ist sie echt und geschieht einfach. Ich habe damit angefangen, wenn ich das Gefühl hatte, es passt. Und es scheint anzustecken. Manchmal ist eine Teilnehmerin schon aus der Türe raus und kommt plötzlich zurück, um sich noch ihre Umarmung abzuholen.
Mitgefühl statt Einsamkeit
Nicht alle können oder wollen das Angebot der Umarmung annehmen. Ich bin mir bewusst, dass es dafür keine gesellschaftliche Regel gibt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass einige zunächst distanziert und verunsichert reagieren. Ich kenne weder ihre Geschichte noch ihre aktuelle Lebenssituation. Vielleicht kennen sie keine freiwillige Umarmung oder werden kaum mehr berührt. Das wissen nur sie selbst und es geht mich nichts an. Deshalb braucht es Geduld und Respekt. Ich versuche, diesen Frauen genauso Aufmerksamkeit zu schenken, manchmal reicht dann ein Lächeln.
Die Yogastunde ist ein Treffpunkt geworden. Jede entscheidet selbst, wie viel Nähe sie zulassen möchte. Die Frauen üben regelmäßig und sie kommen – anders als in anderen Yogaklassen – häufig mindestens 15 Minuten früher. Sie genießen den Kontakt, den Austausch und sicherlich auch die ein oder andere Umarmung.
3 Gründe, warum es mit Berührung leichter geht
Ich hätte das nicht für möglich gehalten, aber die Berührung macht einen Unterschied. Sie macht die Yogastunde zu einer tiefergehenden Erfahrung mit mehr Liebe und Mitgefühl. Und wir lachen mehr, die Sache ist nicht mehr so ernst. Eine gesunde und perfekte Grundlage für jeden Yoga Unterricht! Letztlich geht es doch darum: sich (wohl) fühlen, berührt und lebendig sein. Gerade im Alter.
Berührung lässt uns sicher fühlen
So wie der erste Gedanke am Morgen häufig entscheidet, wie ein Tag verläuft, so schafft die erste Berührung einen liebevollen Einstieg in die Yogastunde. Sie will sagen: Du bist willkommen. Und du darfst hier sein, auch mit körperlichen Einschränkungen. Du musst nichts leisten, um akzeptiert zu werden.
Berührung scheint das besser zu vermitteln als Worte. Sie hilft beim Ankommen. So finden sie vielleicht eher den Mut, die Signale ihres Körpers wahrzunehmen und zu respektieren. Sie trauen sich, aufzuhören, wenn ihnen eine Körperübung zu viel wird.
Berührung lässt uns deutlicher wahrnehmen
Vor allem die Selbstmassage hat den Effekt der besseren Selbstwahrnehmung. Wenn wir uns selbst berühren, stellen wir fest: Okay, das ist mein Körper, der sitzt hier und jetzt auf diesem Stuhl. Da ist mein Atem, der mich bewegt. Ich spüre meinen Körper. Ich spüre mich.
Am Anfang ist die Berührung sich selbst gegenüber meistens recht mechanisch oder nachgeahmt. Nach einer Weile wird sie bei vielen langsamer und intuitiver. Einige Frauen schließen die Augen und lächeln sogar.
Die Berührung lässt uns entspannen
Es hat mich erstaunt, wie viel Stress Senioren haben. Ihre Lebensrealität ist anders, aber das heißt noch lange nicht, dass sie stressfrei ist. Und das ist gut so, denn bedeutet Stress nicht auch, dass mir Dinge etwas bedeuten? Dass ich von meinem sozialen Umfeld berührt fühlen möchte? Da sind die Enkel und familiäre Verpflichtungen, viele Arztbesuche, meist noch der Haushalt – und alles dauert länger. Stress ist nichts Schlechtes. Probleme entstehen, wenn wir in der Angst verharren, es nicht zu schaffen oder, wenn schlichtweg die Erholung fehlt.
Fast alle berichten, dass sie sich innerlich unruhig fühlen und nur schwer Entspannung finden. Warum also nicht die körperliche Wirkung von Berührung nutzen, um die Effekte der Yogapraxis zu vertiefen oder vielleicht sogar zu beschleunigen?
Die Berührung ist eine Art Dünger für den Garten der Seele. Die Muskeln werden weicher, die Atmung reguliert sich, das Anti-Stress-Hormon Oxytocin wird ausgeschüttet, um nur einige positive Effekte zu nennen. Was der innere Seelengarten sonst noch braucht – Licht, Wasser, weiteren Dünger – das findet jede Teilnehmerin im Rest der Yogapraxis für sich selbst heraus.
