Berühre und lass dich berühren – warum Aufmerksamkeit der Schlüssel ist
von Silke Schuster
Berührung hat viele Gesichter: Du kannst mit den Händen berühren und berührt werden. Doch Dich innerlich berührt fühlen, kannst Du durch vieles mehr. Wer schon mal von einem Blick berührt wurde oder sich von Musik hat berühren lassen, weiß, was ich meine.
Berührung ist essenziell für das menschliche Wohlbefinden. Heute wissen wir, dass sich Babys mit regelmäßigem Haut- und Blickkontakt besser entwickeln. Doch auch wir Erwachsenen brauchen diese Formen der Berührung, um uns wohl in unserer Haut zu fühlen und Stress zu reduzieren.
Wenn ich mich jedoch in meinem Alltag umsehe, keimt in mir der Verdacht, dass die technischen Geräte im Schnitt mehr Berührung erleben als der Mitmensch. Selbst Paare, die nebeneinander sitzen, scheinen mit ihren Händen mehr ihr Smartphone zu berühren als ihren Partner.
Facetten der Berührung
Berührungen sind Ausdrucksformen von Zuwendung, Hingabe und Liebe. Sie wirken besonders durch die Aufmerksamkeit und schaffen umgekehrt Aufmerksamkeit. Bist Du aufmerksam und bei Dir, kannst Du auf ganz andere Weise berühren als wenn Du mit Deinen Gedanken völlig woanders bist. Auf der anderen Seite bist Du für die Wirkung einer echten Berührung viel offener, wenn Du beim Empfangen aufmerksam bist.
Die Haut: Spiegel der Seele
Unsere Haut verdient die Bezeichnung „Spiegel der Seele“. Als sensibles Sinnesorgan sendet sie aus, empfängt sie, fühlt sie. Dieses Fühlen von z. B. Temperatur, Schmerz oder Druck geschieht über unzählige Rezeptoren, die diese Empfindungen an das Gehirn weiterleiten. Wenn die Seele leidet, kann es sein, dass die Haut das nach außen spiegelt.
Ich wünsche Dir, dass Du auch schon dieses Wunder einer echten, heilenden und sich zutiefst „richtig“ anfühlenden Umarmung erlebt hast. In der Regel geschieht dieses Wunder in der Umarmung mit jemandem, der uns wirklich nahe steht – z. B. unser Partner oder vielleicht die beste Freundin. Es ist das tiefe Vertrauen und die starke Verbindung, die dieses großartige Gefühl in dieser Berührung entstehen lassen. Ich würde dieses Gefühl als stärkend, schützend, nährend, beruhigend und ankommend beschreiben – und einfach als unbeschreiblich. Eine solche Verbindung kann überhaupt erst entstehen, wenn die „Chemie“ stimmt, wenn wir uns im wahrsten Sinne des Wortes riechen können.
Die Qualität von Umarmungen kann generell sehr unterschiedlich ausfallen: Vielleicht umarmst Du Freunde und Familie zur Begrüßung kurz – die Geste: „Hallo, schön Dich zu sehen. Ich bin da.“ Oder auch mal „nur“: „Hallo, da bin ich“ (und ergänzend: „Komm mir heute nicht zu nahe“). Vielleicht hast Du jemanden, der Dir am Herzen liegt, länger nicht gesehen. Die Wiedersehensfreude zeigt sich in einer längeren, herzlichen Umarmung.
Wir alle können jedenfalls einen Unterschied in den Umarmungen fühlen. Es liegt an den Situationen, an den Intentionen, an den Menschen – und an der Aufmerksamkeit. Versuche mal jemanden tröstend in den Arm zu nehmen und dabei an Deine eigenen Verpflichtungen zu denken, die Dir im Nacken sitzen. Da wird nicht viel Trost ankommen. Vielleicht hast Du das auch selbst schon einmal erlebt: Jemand umarmt Dich wie nebenbei und Du spürst genau, dass die Person mit der Aufmerksamkeit überall ist, nur nicht bei Dir. Die Berührung fühlt sich unecht an.
Natürlich lässt sich das nicht pauschalisieren. Wenn jemand gerade große Sorgen hat, wird es der Person schwer fallen, die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment, die Begegnung, die Berührung zu lenken. Da kann eine Umarmung schon mal ganz flüchtig ausfallen.
Die Augen: Fenster zur Seele
Hat Dich schon einmal ein Blick berührt? Das kann passieren, wenn Dich jemand völlig präsent und aus tiefstem Fühlen heraus ansieht und Dich z. B. seine Liebe oder sein Mitgefühl berührt. Ein Blick, der Dich flüchtig streift oder abwesend ist – weil die Aufmerksamkeit des Schauenden nicht im Moment und damit nicht bei Dir ist, hat nicht die Macht der Berührung. Gleichwohl kann Dich ein Blick berühren, der eigentlich gar nicht Dir gilt und bei dem der Schauende in Gedanken ganz woanders ist. Vielleicht fühlst Du hier mit.
Ausdrucksstarke, leuchtende Augen können uns in ihren Bann ziehen. Die lebendige, gesunde und begeisterte Seele zeigt sich durch die Augen. Genauso drückt sich eine traurige, erschöpfte Seele in den Augen aus.
Dabei ist es gar nicht so einfach, jemandem wirklich in die Augen zu sehen. Schon gar nicht Dir selbst, oder? Wann hast Du Dir selbst zum letzten Mal „richtig“ in die Augen gesehen? Und ich meine nicht auf die Augen schauen, damit der Lidstrich sitzt. Kennst Du Deine Augenform, die Farbtupfer und -variationen Deiner Augen, weißt Du, wie sich Dein Ausdruck je nach Stimmung verändert?
Vielen Menschen fällt es schwer, Blickkontakt zu halten. Das mag daran liegen, dass die Augen als „Fenster zur Seele“ Gefühle zeigen und das Gegenüber samt Emotionen erfasst und wahrnimmt. Das kann Angst verursachen, weil wir uns durchschaut und verletzlich fühlen.
Die Ohren: Sprachrohr zur Seele
Musik dringt tief in unseren Körper und landet direkt in unserem Gehirn. Eine Hormonmischung erzeugt eine Vielfalt von Gefühlen. Wir können die Rhythmen, die Bässe, die Vibrationen im Körper spüren. Ob nun Rock oder Klassik Gefühle auslösen ist unerheblich und sehr individuell. Aber sicherlich wurdest Du selbst schon von Musik berührt.
Ob uns ein bestimmtes Musikstück bis ans Lebensende an unseren ersten romantischen Tanz erinnert, an Liebeskummer oder einen Glücksmoment, ob wir ein bestimmtes Musikstück laut aufdrehen, um unsere gute Laune zu potenzieren oder hervorzukitzeln oder ob wir vor lauter Wut ein aggressives Stück auf volle Lautstärke drehen – alle Situationen haben mit Gefühlen und einem „berührt sein“ zu tun.
Auch Stille dringt durch unsere Ohren ins Gehirn. Stille, untermalt von zarten Hintergrundgeräuschen wie Vogelgezwitscher, kann uns ebenfalls berühren und beruhigen. Absolute Stille jedoch, die kein einziges Nebengeräusch preisgibt, macht den Mensch i.d.R. nervös, reizbar und unsicher. Es fehlt die akustische Orientierung im Raum.
Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit meint das Bewusstwerden und das Wahrnehmen. Wenn wir uns auf einen Gedanken fokussieren oder das augenblickliche Gefühl wahrnehmen, sind wir aufmerksam.
Eine Berührung, sei es ein „berührender“ Blick oder eine Umarmung, fühlt sich erst dann echt an, wenn sie von Aufmerksamkeit geleitet ist. Diese entsteht in einer Grundhaltung von „Selbst-Aufmerksamkeit“. Bei einer wahren, wohlmeinenden Berührung erhält das Gehirn Signale, die sich positiv auf Körper und Seele auswirken.
Aufmerksamkeit leitet unser Tun auf eine sehr authentische und JETZT-achtende Weise. Je aufmerksamer wir sind, desto mehr leben wir im Moment und selektieren, indem wir uns auf das Wesentliche in diesem Moment fokussieren.
Je mehr Du im Moment ankommst, desto wahrhaftiger kannst Du geben, weil Du spürst, dass Du bereit dafür bist. Das ist auch die Ausgangsbasis beim Thai Yoga: zentrieren, fokussieren, atmen und eine Intention für die Berührung des Empfangenden setzen.
Umgekehrt gilt es genauso: Ohne „Selbst-Aufmerksamkeit“ kannst Du nicht empfangen. Wenn Du nicht bereit bist, Dich berühren zu lassen, kommst Du nicht ins Spüren und ins Empfangen. Dann klingt die Musik schal, der Vogel trällert unmelodisch, Dein Gegenüber starrt Dich an oder die Umarmung erdrückt Dich.
Möchtest Du Deine Berührungen von Aufmerksamkeit leiten lassen? Hier sind fünf persönliche Tipps für Dich:
- Beginne bei Dir selbst!
Aufmerksamkeit beginnt bei Dir selbst. Ist Dein Geist in anderen Welten unterwegs, bist Du nicht in Deiner eigenen Mitte. In dem Fall ist es denkbar schwierig, jemand anderem gegenüber wirklich aufmerksam zu sein. - Setze eine Intention!
In einer Thai Yoga-Session ist es klar: Du möchtest dem Empfänger Entspannung und Ruhe schenken. Doch dieses Prinzip kannst Du auf jede Art von Berührung oder Begegnung anwenden – die Intention könnte dabei sein: Du schenkst Deinem Gegenüber Zeit. Diese Zeit gehört Euch. Nichts stört oder funkt dazwischen – ganz wortwörtlich übrigens auch kein Smartphone. Das kann warten, bis die Begegnung vorbei ist. - Lenke Deine Aufmerksamkeit!
Aus Deiner Mitte heraus kannst Du Deine Aufmerksamkeit auf Dein Gegenüber lenken. Das beginnt mit der Wahrnehmung: Schau die Person wirklich an – ich meine aber nicht anstarren. Einfach aufmerksam ansehen und zuhören, ohne dabei bereits an der Antwort zu feilen. Lass Dich dabei möglichst nicht ablenken, weder von dem Drumherum, noch von Deinen Affen im Geist. - Berühre von Herzen!
Sei echt in Deinen Berührungen. Du schüttelst jemandem die Hand? Eine „tote Pfote“ wirkt nicht besonders präsent. Ein angenehmer, fester Händedruck hingegen schon viel mehr. Schau der Person dabei offen in die Augen. Ein Lächeln dazu rundet die Begrüßung ab und zeigt Deinem Gegenüber, dass Du wirklich da bist. Umarmst Du jemanden zur Begrüßung? Öffne Deine Arme. Wenn Du diese Umarmung partout nicht möchtest, dann lass es sein. Das zeigst Du dann gleich in Deinem Auftreten, indem Du z. B. nicht zu nah heran kommst und gleich die Hand ausstreckst. - Öffne Dich für berührende Momente!
Lass Dich selbst berühren – vom herzhaften Lachen eines Kindes, vom Lächeln eines Fremden, vom offenen Blick Deines Gesprächspartners, von dem unbekannten Musikstück im Radio, von der faszinierenden Straßenkunst oder von den entspannenden Massagegriffen bei einer Thai Yoga-Behandlung. Beispiele ließen sich hier unzählige anführen. Bleibe offen für Neues (und Bekanntes!), entdecke, nehme wahr und spüre.
Fazit
Im übertragenen Sinne ist Aufmerksamkeit bereits Berührung: Wir suchen Augenkontakt, hören tatsächlich zu, spüren die Musik und nehmen unser Gegenüber als Individuum wahr. Wir sind präsent und widmen der Person unsere Zeit und unsere Aufmerksamkeit. Manchmal ist diese Form der geschenkten Aufmerksamkeit mehr wert als eine Umarmung, die nicht ernst gemeint ist.
Über Silke Schuster

Silke Schuster
Silke ist hauptberuflich im Bildungsbereich tätig. Sie praktiziert seit vielen Jahren Yoga und unterrichtet mit großer Leidenschaft den Vinyasa Flow-Stil. Verwurzelt im Tanz, kreiert sie immer wieder Yoga Music-Flows für Specials, frei nach dem Motto „Let it flow & breathe to the beat!“. Außerdem gibt sie Thai Yoga Massage. Ihre Liebe zur Sprache und zum Yoga verbindet sie auf ihrem Blog für Yoga und Lebensfreude „Lebensflow“. Darüber hinaus ist sie Autorin für Happy Mind Magazine und UNIT Yoga-Blog.